Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima kam es 2013 zu einem Paradigmenwechsel in der deutschen Energiepolitik. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel verkündete relativ kurzfristig den Atomausstieg. Die großen Energieanbieter in Deutschland, die Atomkraftwerke betreiben, wurden von dieser Entwicklung unverhofft überrascht. Dabei sind die ökonomischen Konsequenzen erheblich. Der analysierte europäische Energieanbieter schätzte seine langfristigen Gewinnausfälle auf ca. 1 Mrd. Euro pro Jahr.
Vor diesem Hintergrund stand das analysierte Unternehmen unter erheblichem Zugzwang, qualitativ hochwertige strategische Handlungsalternativen zu formulieren. Dafür ist es jedoch zunächst erforderlich, systematisch die strategischen Ziele des Unternehmens zu identifizieren und zu strukturieren. Diesem Unterfangen haben sich Prof. Ralph Keeney, seines Zeichens emeritierter Professor der Duke University (USA) und Begründer der Value-focused Thinking Methode, und Prof. Johannes Siebert Anfang 2013 angenommen. In einem umfangreichen Prozess wurden Einzelinterviews mit allen Mitgliedern des Vorstands, dem Aufsichtsratsvorsitzenden sowie einem Dutzend Mitarbeitern in Schlüsselpositionen geführt. Letztere deckten alle relevanten Geschäftsbereiche des Unternehmens umfassend ab. Darüber hinaus wurden öffentlich zugängliche Dokumente sowie interne Planungsdokumente des Unternehmens systematisch nach möglichen Zielen hin analysiert.
Insgesamt wurden auf diese Weise zunächst 450 Ziele identifiziert. Im nächsten Schritt wurden diese Ziele kategorisiert, um Redundanzen eliminieren zu können. Anschließend wurden die Ziele in einem Netzwerk organisiert und in einem übersichtlichen Schaubild visualisiert. Dabei wurden auf der obersten Ebene des Zielnetzwerks drei unterschiedliche Teilbereiche definiert.
- Der erste Bereich des Zielnetzwerks beschäftigt sich im Wesentlichen damit, wie das Unternehmen eine Grundlage für zukünftigen Erfolg legen kann. In diesem Bereich finden sich viele Ziele, die sich damit beschäftigen, wie gute Führung zu leisten ist, wie eine hochqualifizierte Mitarbeiterstruktur auf- und ausgebaut werden kann und wie konsequent hochwertige Entscheidungen getroffen werden können.
- Der zweite Bereich des Zielnetzwerks beschäftigt sich damit, wie das Unternehmen seine Geschäfte clever und zukunftsweisend gestalten kann. Im Zuge dessen wurde deutlich, dass innerhalb des Unternehmens zwei unterschiedliche Zielsysteme verfolgt werden. Zum einen sind „Effizienz erhöhen“ und „Kosten minimieren“ im traditionellen und regulierten Geschäft die zentralen Zielgrößen. Währenddessen stehen in den neuen und noch nicht regulierten Geschäftsbereichen, wie etwa alternative Energien, Ziele wie „Neue Produkte entwickeln“, „Neue Märkte erschließen“ oder „Neue Kunden gewinnen“ im Vordergrund.
- Der dritte Bereich des Zielnetzwerks beschäftigt sich damit, wie das Unternehmen im unsicheren Marktumfeld nicht nur überleben, sondern weiter aufblühen kann. Im Mittelpunkt steht dabei, welche Werte (Values) das Unternehmen für seine Stakeholder (Kunden, Anteilseigner, Mitarbeiter, Partner und Bevölkerung) strategisch anstrebt. Für die Kunden sollen beispielsweise eine sichere und verlässliche Energieversorgung zu vertretbaren Preisen erreicht werden. Für die Anteilseigner soll eine angemessene und stabile Dividende ausgeschüttet werden. Darüber hinaus soll sichergestellt werden, dass das Unternehmen sich weiterhin sehr stark regional engagiert. Für die Mitarbeiter sollen sichere Arbeitsplätze zu fairen Konditionen angeboten werden, bei denen sie Freude an der Arbeit haben.
Ein wichtiges Teilergebnis bestand in der Erkenntnis, dass das Unternehmen in zwei Geschäftsbereichen mit sehr unterschiedlichen Zielen agiert, dem traditionellen regulierten Bereich und dem neuen unregulierten Bereich. Zwei wesentliche Ziele verdeutlichen dies. Im regulierten Bereich ist das Ziel „Operate effectively und efficiently“ zentral, im unregulierten hingegen „Create and market new products and processes“. Dahinter stehen unterschiedliche Managementphilosophien. So kam es beispielsweise dazu, dass sich Mitarbeiter, die viele Jahre im traditionellen Geschäftsbereich tätig waren, im unregulierten Geschäftsbereich sehr schwer taten.
Als die Ergebnisse in einer Vorstandssitzung präsentiert wurden, meinte der Vorstandsvorsitzende, damals 100 Tage im Amt, dass er beeindruckt davon sei, dass wir alles, was dem Unternehmen wichtig ist, auf einer Seite verdichten konnten und dass gerade die klare Unterscheidung der Zielsetzungen im regulierten und unregulierten Bereich das fehlende Puzzlestück für ihn gewesen sei, um seinen Mitarbeitern seine Vision des Unternehmens klar zu kommunizieren.